Neues schaffen aus Nichts
Leben und Werk Rudi Stephans
von Wolfgang Willaschek
»Jeder erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen.« So beschreibt Stefan Zweig in seinen Erinnerungen »Die Welt von gestern« die Euphorie und Kriegsbegeisterung im August 1914.
Im Nachlaß des am 29. Juli 1887 in Worms geborenen Komponisten Rudi Stephan fand sich eine Skizze mit der Aufschrift »Präludium und geharnischte Fuge, geschrieben an der Wende des eisernen Jahres 1914/15«, der nach Absicht Stephans ein Werk für Sopran und Orchester nach Worten Gerhart Hauptmanns angeschlossen werden sollte. Unter den Textdichtern seiner hauptsächlich in den Jahren 1913 und 1914 entstandenen Liedern finden sich Otto Julius Bierbaum, Detlev von Liliencron, Richard Dehmel und Gerda von Robertus, aus deren pathetischer Dichtung »Hohelieder an den Unbekannten« Stephan sechs Gedichte verwendete. – Autoren also, die in Heimatverbundenheit und Kulturbewußtsein einen geeigneten Ausdruck für die kommende »neue« Zeit suchten.
Rudi Stephan stammt aus einer wohlhabenden und einflußreichen Juristenfamilie in Worms. Der Vater wurde hessischer Landtagsabgeordneter und war Vorsitzender des örtlichen Wagnervereins. Der Einfluß des Bayreuther Meisters ist auch in den Kompositionsentwürfen der ersten Jahre aufzuspüren: 1903 entsteht der Entwurf einer Tondichtung »Roland«, ein Jahr später skizziert der 17jährige ein dreiaktiges Musikdrama »Der Märtyrer – Aus der Zeit der ersten Christen«, 1908 arbeitet er an einem Oratorium »Neuer Glaube« und 1909 schließlich versucht er aus einer alttartarischen Legende nach Maxim Gorki einen musikdramatischen Einakter »Vater und Sohn« zu entwerfen.
Bereits 1905 hatte er mit Duldung seiner Eltern das Gymnasium in Worms verlassen und Studien bei dem Frankfurter Komponisten Bernhard Sekles am Hochschen Konservatorium aufgenommen. Dort lernt er die Welt eines Claude Debussy kennen und findet in den musiktheoretischen Schriften von Georg Capellen, die sich mit der Überwindung des Dur-Moll-Dualismus beschäftigen, das Fundament seiner Suche nach einer Musik, die ohne programmatischen Hintergrund und ohne symbolische Aussage ganz allein »aus sich« und »für sich« zu wirken vermag. 1906 wechselt Stephan nach München, wo ihn Rudolf Louis in das Werk Richard Strauss‘, Arnold Schönbergs und Max Regers einführt. Trotzdem bleiben solche Vorbilder nur Randerscheinungen beim Versuch des Komponisten, einen eigenen Stil zu entwickeln. Bereits 1908 wird er zum Autodidakt und erarbeitet jene Werke, die er am 16. Januar 1911 in einem durch den Vater großzügig finanzierten Konzert in der Münchner Tonhalle erstmals der Öffentlichkeit vorstellt. Sie bilden auch das Zentrum seines Schaffens und werden in dreijähriger Arbeit stetigen Änderungen und Korrekturen unterzogen. Die »Musik für Orchester in einem Satz«, die zurückgeht auf einen 1908 entstandenen Versuch »Opus I« mit dem Motto »Vorwärts sehen, vorwärts streben – keinen Raum der Schwäche geben« und der Bemerkung »Keinen poetischen Titel, nicht die Benennung Tondichtung und gar nichts«, wird im Herbst 1912 vollendet und erlebt eine vielbeachtete Uraufführung auf dem 48. Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereines am 6. Juni 1913 in Jena. Die »Musik für Geige und Orchester«, das zweite Werk, das Stephan einem Publikum 1911 vorstellte, wird ebenfalls überarbeitet und 1913 in seiner endgültigen Form vollendet. Das dritte Werk beweist bereits den Hang zur spätromantischen Dramatik: Friedrich Hebbels Ballade »Liebeszauber« ist Ausgangspunkt einer Tondichtung, die zunächst für Tenorsolo und Orchester, später für Bariton und Orchester entworfen wird. 1912 hatte bereits ein anderes Werk des jungen Komponisten Aufsehen erregt. In Danzig war die »Musik für sieben Saiteninstrumente« uraufgeführt worden, über die Paul Bekker in der Frankfurter Zeitung schrieb: »Eine Musik für 7 Instrumente von Rudi Stephan erwies sich als hervorragende Leistung eines bizarrphantastischen, aber selbständigen und reichen Talents.«
In einem Brief Rudi Stephans an seinen Verleger Geheimrat Dr. Ludwig Strecker in Mainz, mit dem er um eine Aufnahme der in Vollendung begriffenen Oper »Die ersten Menschen« bittet, steht: »die ersten Anfänge dieses in langer Arbeit und Ruhe ausgereiften Werkes liegen bis 1909 zurück«. Cliquen, so argwöhnt der Studienfreund Kasimir Edschmid, hatten sich gegen Stephan verschworen und Freunde rieten ihm ab, das erotische Mysterium des pathetischen »Befreiers« Otto Borngräber zu vertonen. Die Urgeschichte der Menschheit wird dort in »bombastisch aufgeblasener Sprache und philosophisch verqualmten Tiraden« zum Ausgangspunkt einer mit Ethos und Eros beladenen Eifersuchtsgeschichte, an deren Ende die prophetische Verkündung eines neuen, gottfreien Menschentums steht. »Mit der Schöpfung beginnt! Lasset uns ringen, schwer ringen. Neues schaffen aus nichts! Und machen den Lebendigen das Leben schön!« verlangt Adahm zu Beginn der Oper. Rudi Stephan erkannte die dramaturgischen Schwächen des Librettos, aber sah gerade in den dahinterliegenden Konflikten ideale Gestaltungsmöglichkeiten für seine Musik. Nur wenige Motive und Klanggebilde schaffen ein faszinierendes Spektrum musikdramatischer Aussage: die Schwäche Adahms, der sein Lebenswerk vollendet glaubt, die Ungeduld Chawas, die sich nach der erfüllten Liebe zurücksehnt, die Zerrissenheit Kajins, der den Widerspruch von leiblicher Hingabe und geistigem Ideal verspürt und der Aufbruch Chabels, der sich zum Heilsverkünder ausruft und den Menschen der Zukunft predigt, dies sind die dramatischen Impulse, aus denen Stephan die innere Spannung seiner Musik erzeugt, einer Musik, die stärker dem später so genannten »expressionistischen« Zeitgeist und der gerade entdeckten Lehre von der Psychologie nahesteht als ihren spätromantischen und symbolischen Vorbildern.
Noch am 25. November 1914 glaubt er in einem Brief an seinen Verleger zu wissen, daß eine von der Frankfurter Oper bereits zugesagte Uraufführung der »Ersten Menschen« im nächsten Winter zustandekomme, da ja »bis dahin mit einem Ende des schrecklichen Krieges bestimmt zu rechnen sei.« Eine Widmung des germanischen Trauerspiels »König Friedwahn« von Otto Borngräber an seinen Vater mit den Worten »Dieses Trauerspiel des Weltfriedens im Jahre des schrecklichen Weltkrieges« und eine Mitteilung an den Kulturkritiker Heinz Tiessen, daß ihm ein Besuch in Berlin, der Stadt, in der er nach diesem Krieg leben will, nicht möglich sei, um nicht zu sehr seinen Musik-Sehnsüchten zu verfallen, beweisen, daß sich die Einstellung des Komponisten zum Krieg verändert hat. Im März 1915 wird Rudi Stephan zum Heeresdienst einberufen und beschreibt den Aufenthalt in der Kaserne »eher als ein Gefängnis«. Anfang September rückt er in der Vermutung aus »Ob zum aktiven Regiment ist noch fraglich«. Am 29. September, wenige Tage nach seinem Eintreffen an der Front, fällt er durch Kopfschuß. »Schicksal!« – so steht es unter der Mitteilung seines Todes an die Mutter. Kasimir Edschmid, der Freund, schreibt im »ZeitEcho« über Rudi Stephan: »Er wird die bedeutendste musikalische Kraft des jungen Deutschland gewesen sein.«