DIE DREI LEBEN DES HANS-KARL VON WILLISEN
von Monika Wersche
Einleitung
Man lebt nur zweimal – heißt ein bekannter Agententhriller aus den 60er Jahren, in dem James Bond in seiner unvergleichlichen Art und undercover, versteht sich, versucht, die Welt vor dem Untergang zu retten. Als russische und amerikanische Raumkapseln auf mysteriöse Weise verschwinden, geben sich die beiden Supermächte gegenseitig die Schuld daran. Droht ein Dritter Weltkrieg?
Bond kann ihn abwenden, doch bezahlt er seinen Einsatz mit dem Leben; jedenfalls wird er für tot erklärt. Daß er es nicht ist, stellt sich erst später heraus. Zum Glück! Sein 2. Leben kann beginnen…
Soweit der Film, die Fiktion.
Auf unserer FUNKSTUNDEN – Seite haben wir es mit einem Mann zu tun, der ebenso wie Bond in geheimer Mission unterwegs war. Sein Name: Von Willisen, Hans-Karl Freiherr von Willisen. Und wo fand er sein Einsatzgebiet? Zu Wasser, zu Lande und in der Luft! Von Willisen war allerdings kein Agent, sondern ein genialer Erfinder, ausgestattet mit einem unermüdlichen Forschergeist, als Mensch sehr erdverbunden, was auf den Gegenstand seiner wissenschaftlichen Untersuchungen und technischen Experimente nur zum Teil zutraf – zutreffen konnte!
Und dieser Mann brachte es sogar auf drei Leben.
DAS 1. LEBEN DES HANS-KARL VON WILLISEN
Von Willisen war maßgeblich an der Entwicklung des deutschen Radarsystems beteiligt. Radar, das bis 1945 noch als Funkmeßtechnik bezeichnet wurde. Diese Funkmeßtechnik war Inhalt seines Lebens, seines ersten!
Hans-Karl, Jahrgang 1906, interessierte sich schon als Schüler für alles, was irgendwie nach Technik, möglichst Funktechnik aussah und gründete bereits als junger Mann von Mitte 20 zusammen mit seinem Kompagnon, Paul – Günther Erbslöh, eine eigene Firma in Berlin, die „Tonographie“.
Die beiden Experten beschäftigten sich mit neuen Verstärker- und Mikrofontechniken, von denen sie sich – nach dem Trichter, der Edisonschen Sprechmaschine – eine verbesserte Aufnahme- bzw. Wiedergabequalität versprachen.
Die Ergebnisse ihrer Versuchsreihen konnten sich sehen, bzw. hören lassen, und sie sollten sich bald in barer Münze auszahlen. Nicht nur in Reichsmark, sondern auch in Kontakten, so etwa zum berühmten VOX – Haus, dem Haus der Schallplatte in Berlin, von dem aus 1923 die erste öffentliche Rundfunksendung in Deutschland übertragen wurde.
Schon damals wirkten v. Willisen und Erbslöh bei der Erprobung und dem Aufbau der ersten Übertragungseinrichtungen des Senders mit. Als „Hans Dampf in allen Gassen“ bekannt und außerordentlich beliebt, nahm man auch in militärischen Kreisen Notiz vom jungen Willisen und seinen akustischen Versuchen: 1932 brauchte das Heereswaffenamt in Berlin „für Ausbildungszwecke bei der Truppe Schallplattenaufnahmen vom Mündungs- und Geschoßknall für Zeitabstandsmessungen und Ortsbestimmungen“ (v. Krooge, S.22). Wen konnte man sich für ein solches Vorhaben besser vorstellen als die beiden technischen Alleskönner v. Willisen und Erbslöh mit ihren unkonventionellen Methoden?
Sie bezogen mit ihren Aufnahmegeräten Stellung im Schützengraben des Schießplatzes Kummersdorf bei Berlin und lieferten den Behörden die gewünschten Schallplattenaufnahmen. Nach dieser gelungenen „Generalprobe“ wurden v. Willisen und Erbslöh zur Nachrichtenversuchsanstalt der Marine (NVA) weiterempfohlen und um Mitarbeit in dem äußerst sensiblen Forschungsbereich der aktiven Wasserschall- und Funkortungstechnik gefragt.
Von Willisen und Erbslöh sagten gerne zu, denn für neue geistige und technische Herausforderungen waren die beiden jungen Pioniere immer zu haben. Forschung war teuer, staatliche Zuschüsse flossen Anfang der 30er nur spärlich, so daß sich von Willisen und Erbslöh entschlossen, ihre Experimente aus eigener Tasche zu bezahlen. Sie konnten es sich leisten. Ihre Firma „Tonographie“ lief prächtig – Ton- und Schallplattenaufnahmen wurden überall gebraucht – und der Eröffnung einer zweiten Firma, die sich ausschließlich mit der Erforschung der Funkmeßtechnik beschäftigte, stand nichts im Wege.
Sie nannten sie „Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH“ (GEMA), die später einen legendären Ruf erlangte. Eigenes Geld, unabhängige Forschung, so v. Willisens und Erbslöhs Überlegung, erwies sich als Utopie. Als Unterwasserversuche in Deutschland ab 1934 zur geheimen Kommandosache erklärt wurden, war es mit einer anfänglichen Experimentierphase bei der GEMA vorbei.
Der enge Umgang von reinen Zivilisten mit besonders geschützten militärischen Bereichen war ohne Einbindung ins System nicht mehr möglich. So stieg v. Willisen zum Marinenachrichtenoffizier im Range eines Leutnants auf, und der Form war Genüge getan, was wir an einer persönlichen Widmung des Generaladmirals Saalwächter ablesen können. Über seine innere Haltung zur politischen Situation können wir nur mutmaßen, Überlieferungen liegen uns nicht vor. Von Krooge äußert sich wie folgt dazu: „Zu einer Zeit, als sich Erbslöh und von Willisen mit einer Reihe enger Mitarbeiter noch mit Vorschlägen über die friedliche Nutzung ihrer DeTe – Geräte als Lotsengeräte für die Handelsschiffahrt und für Zwecke der zivilen Luftfahrt beschäftigen konnten und durften, befanden sich über 20 GEMA – Funkgeräte bereits zu Lande und zu Wasser im militärischen Einsatz“ (v. Krooge, S.105). Die Machthaber des „Dritten Reiches“ hatten schon frühzeitig die Brisanz dieser neuen Technik erkannt und für sich reklamiert. So blieb es nicht aus, daß v. Willisen als Entwickler und nennenswerter Zulieferer für die NVA bei Ausbruch des 2. Weltkrieges mit seiner GEMA zur Kriegsproduktion herangezogen wurde (Nachzulesen bei Harry von Krooge).
ZU WASSER, ZU LANDE UND IN DER LUFT
An der Nord- und Ostseeküste, am Mittelmeer in Süditalien und Sizilien, überall, wo man unsichtbare Feinde vermutete, wurden die riesigen, aus Einzelteilen bestehenden Wasserschall- und Funkortungsgeräte installiert und in Position gebracht. Das Radar wurde ebenso in Geräten kleiner und leichter Bauform nach Willisenscher Technik u.a. an Bord von Flugzeugen verwendet, mit deren Hilfe man auch erkennen konnte, ob sich der Feind von hinten nähert.
Alle militärischen Gruppen (Heer, Marine, Luftwaffe) machten sich so schnell wie möglich die geniale Erfindung des Radars zunutze.
Auch auf der Insel Lampedusa, einem der südlichsten Flecken Europas, tauchte 1941 ein Einsatzkommando der deutschen Wehrmacht auf, im Gepäck ein zerlegtes Freya – Gerät. Im Visier: Die afrikanische Küste. Andreas Sander, ein Zeitzeuge und damals blutjunger Soldat, erzählte uns eindringlich von seinen Einsätzen als Wartungsingenieur am Freya- Gerät auf Lampedusa.
Wir trafen Andreas im Jahr 2001 auf dieser Insel, die er nach 60 Jahren noch einmal wiedersehen wollte. Von ihm stammen auch die entsprechenden Fotos auf unserer FUNKSTUNDEN – Seite. Mit 80 Jahren war er im BMW von seiner Heimatstadt Kleve über 2000 km den Stiefel hinunter gefahren bis nach Sizilien und weiter nach Lampedusa, auf Spurensuche nach der eigenen Vergangenheit wie er uns sagte.
Andreas überließ uns einen Brief, den er nach einem etwas missglückten Manöver auf Sizilien von einem italienischen Kommandanten bekommen hatte, er berührte uns zutiefst.
Wir schreiben hier nicht die Geschichte der Radartechnik. Das haben andere ausgiebig getan – unbedingt lesen: Harry von Krooge: „GEMA – BERLIN – Geburtsstätte der deutschen aktiven Wasserschall- und Funkortungstechnik“. Wir wenden uns dem 2. Leben des Hans-Karl v. Willisen zu, denn mit Kriegsende und dem daniederliegenden Deutschland des Jahres 1945 ging auch die Firma GEMA unter. Das 1. Leben von Hans-Karl v. Willisen, wenn auch nur sein berufliches, fand ein jähes Ende.
DAS 2. LEBEN DES HANS-KARL VON WILLISEN
In den letzten Kriegsmonaten hatte man Teile der Produktion der GEMA vom Stammwerk in Berlin nach Norddeutschland ausgelagert, um zu retten, was zu retten war. Geschäftsunterlagen, Meßvorrichtungen, Maschinenteile wurden gut versteckt, u.a. in Lagerhallen in Kiel, Scharbeutz, Pelzerhaken und Lensahn in Schleswig – Holstein.
Doch der verstreute Firmenbestand wurde 1945 von den Siegermächten, in diesem Fall den Engländern, aufgespürt und beschlagnahmt. Alles, was nach Funktechnik aussah, wurde entweder abtransportiert oder möglichst zerstört.
Nach Kriegsende war es den Deutschen laut Alliiertenstatut verboten, sich an so genannter „kriegstauglicher“ Produktion zu beteiligen, geschweige denn, sie herzustellen; kein Deutscher durfte ein „funktechnisches“ Gerät besitzen, auch Radios zählten dazu, sie mußten an dafür eingerichtete Sammelstellen abgeliefert werden. Jedoch Reparaturen von Rundfunkgeräten Besatzungsangehöriger durch Deutsche wurde genehmigt.
Da hatte v. Willisen eine Geschäftsidee. Sein Motto hieß von nun an: „Wir bauen alles, wir reparieren alles“ (nach Bölte – Zur Firmengeschichte der MWL und WILAG).
Von Willisen hatte das vom Krieg zerstörte Berlin verlassen und war – aus guten Gründen – nach Lensahn umgezogen. Noch im Jahr 1945 gelang es ihm, mit ehemaligen Mitarbeitern, aus dem Krieg zurückkehrenden Soldaten, Ostflüchtlingen, die auf der Suche nach Arbeit waren, seine „Mechanischen Werkstätten Lensahn“ (MWL) zu eröffnen.
In alten Schuppen wurden doch noch nützliche Teile aus der zerschlagenen alten GEMA entdeckt. Mit seinen aus Fundstücken zusammengesetzten Arbeitsgeräten, seinem „Altwarenhandel“, wie er es nannte, konnten v. Willisen und seine Mitstreiter sich erst einmal über Wasser halten. Man reparierte defekte Kocher, Toaster, „Plätteisen“, Staubsauger, Hörgeräte…, alles, was sich, wenig beachtet und jetzt wieder hervorgekramt, während des Krieges in Kellern der Menschen befand. Nach einer Lockerung des Alliiertenstatuts wurde neben der Reparatur auch die Produktion von landwirtschaftlichen Maschinen erlaubt und schließlich der lang ersehnte Verkauf von Radios. Die Deutschen atmeten auf. Nach dem Zwangshören der vergangenen „1000 Jahre“ gab es endlich wieder Informationen aus der freien Welt! Eine Sensation! Der Berliner Rundfunk im Haus an der Masurenallee, anfangs noch unter alliierter russischer Militäraufsicht, sendete
sie rund um die Uhr. Die Jugend wollte Musik, Musik, Musik! Sie wurde mit „Hottentottenmusik“ wie unsere Eltern sie nannten, vom RIAS Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor) bestens bedient. Und dazu benötigte man viele neue Rundfunkgeräte. Da die Siegermächte Deutschland jetzt als Wirtschaftsfaktor betrachteten, dessen künftige Unternehmen zu ebenbürtigen Handelspartnern heranwachsen sollten, entschlossen sie sich, den Deutschen mit einem maßgeschneiderten Wiederaufbauprogramm, dem Marshallplan, die Gelegenheit dazu zu geben.
Das allgemeine Ärmelaufkrempeln erreichte auch v. Willisens Firma, für sie begann eine ungeahnte, wenn auch kurze, Erfolgsgeschichte.
1948, kurz nach der Währungsreform waren Willisens Auftragsbücher übervoll, die MWL zählte über 400 Mitarbeiter, neue Produktionsstätten wurden angemietet, größere Bürogebäude gebaut. Noch im selben Jahr wurde aus der MWL die „WILAG, Willisen – Apparatebau – Gesellschaft mbH“, aus der v. Willisen ein hoch spezifiziertes Unternehmen machte, das neben Geräten für die Landwirtschaft, vor allem Radios produzierte. V. Willisens Erfahrungen und Kenntnisse auf dem Gebiet der Funktechnik waren wieder gefragt und gerade für die neu entstandenen deutschen Rundfunkanstalten von unschätzbarem Wert.
Für sie baute er u.a. Lautsprecherverstärker und Mikrofone (Typ „Flasche“).
Die Zusammenarbeit mit den Technikern in den Funkhäusern klappte vorzüglich, kannte man sich doch von früher. Günther Schütte, ein späterer enger Mitarbeiter von v. Willisen, erklärt dies so: „Viele der Entwickler der Berliner GEMA fanden sich nach dem Krieg als leitende Ingenieure in den Rundfunkanstalten wieder. Da lt. Kontrollratsgesetz in Deutschland keine kriegstechnisch verwendbaren Anlagen hergestellt werden durften, beschäftigten sich die ehemaligen Mitarbeiter der GEMA mit artverwandten Technologien, die sie mit der gleichen Präzision konzipierten, mit denen sie einst die Freya- und Würzburggeräte erdacht hatten. Vermutlich erklärt sich nicht zuletzt daraus der beachtlich hohe technische Standard des deutschen Rundfunks.
Damit waren zwar Maßstäbe gesetzt, doch die Konkurrenz schlief nicht. Mit den großen Firmen aus der gleichen Branche, wie Siemens, Telefunken oder AEG konnte die WILAG auf die Dauer nicht mithalten: Sie war zwar ein feines, auf Qualität ausgerichtetes Unternehmen, jedoch ein kleines, das auf den Massenbedarf an Geräten, vor allem Radios, nicht vorbereitet war, und auch auf den Nachschub an Ersatzteilen in so großer Zahl nicht entsprechend reagieren konnte. Als die Leser der beliebten Rundfunkzeitschrift „Hör Zu“ in einem Artikel die Empfehlung bekamen, nur noch die kleineren UKW – Radios zu kaufen, bröckelte v. Willisens Kundschaft schnell ab. Seine Großradios waren jetzt nicht mehr gefragt, reklamierte Geräte kamen zurück, wurden nicht bezahlt, und neue Radios nicht mehr bestellt; die Landesbank zog ihre Kredite zurück. 300 Arbeiter wurden entlassen. V. Willisen schied als Geschäftsführer aus der Firma aus. 1949 wurde die WILAG aufgelöst. Ein Liquidationsverfahren zog sich noch bis 1955 hin, die Eintragung endet mit dem Vermerk: „Die Firma ist erloschen“.
(Nach Detlev W.F. Bölte wie oben)
V. Willisen stand zum zweiten Mal vor einer großen Lebenspleite. Aufgeben? Abtauchen? Nein! Das war nicht seine Sache. Er verschwand auch nicht in der Versenkung, wie fälschlich berichtet wurde, er dachte erst einmal nach und – bereitete sich innerlich auf sein 3. Leben vor.
WOHER – WOHIN?
Von Willisen besann sich auf seine Wurzeln, erinnerte sich an die Zeit, die er als Kind und Jugendlicher in Berlin verbracht hatte, an seine ersten beruflichen Erfolge, seine Familie, die ihm das Rüstzeug für seine Lebenskraft gab, und den unerschütterlichen Glauben an sich selbst.
Hans-Karl, am 19.4.1906 geboren, verlebte eine unbeschwerte Kindheit im vornehmen Berlin – Charlottenburg. Mit 12 Jahren besuchte er das Potsdamer Realgymnasium; dort wurde er auch bald gut Freund mit seinem ein Jahr älteren Schulkameraden Erbslöh, dessen Familie aus dem Rheinland zugezogen war. Die beiden Freunde schweißte ihr gemeinsames Interesse an der Technik zusammen. Jede freie Minute verbrachten sie mit tüfteln, basteln und probieren. Vor allem hatte es ihnen die drahtlose Telegraphie und Telephonie angetan; ihre schulischen Leistungen ließen bald zu wünschen übrig, Vater v. Willisen, Offizier von altem preußischen Adel, und Vater Erbslöh, höherer Staatsbeamter aus der Familie der bedeutenden Wuppertaler Aluminium Werke, werden so manches Machtwort gesprochen haben, um ihre „Bengels“ zur Raison zu bringen; schließlich sollte ja mal etwas „Ordentliches“ aus ihnen werden. Die beiden Söhnchen genossen dennoch so viele Freiheiten, an die andere Jugendliche in Zeiten zwischen den beiden Weltkriegen nicht einmal denken konnten. Den gewitzten Berliner Jungs fiel es indes nicht schwer, ihren Kopf durchzusetzen, um an Teile für ihre Experimente heranzukommen. Sie bettelten bei Freunden und Bekannten ihrer Väter um ausgemusterte Funkgeräte aus alten Heeresbeständen, streiften mit ihren Fahrrädern durch die Gegend, immer auf der Suche nach alter Technik; klapperten die Elektrogeschäfte ihres Viertels ab, in denen es manchmal die heiß begehrten Bauteile zu kaufen gab. Sie klopften sogar bei den großen Firmen wie Borsig oder Siemens an, manchmal wurde ihnen geöffnet, doch meistens ließ man sie abblitzen. Zu Hause bauten sie aus ihren Beutestücken immer leistungsfähigere Empfangsanlagen, statteten sie mit den verschiedensten Antennen aus; bald gelang es ihnen, den kommerziellen ausländischen Funkverkehr mitzulesen. Von Willisen beherrschte längst perfekt das Morsealphabet; und irgendwann entdeckten die beiden Freunde die Frequenz der Funkstellen Nauen und Norddeich.
Die erste Rundfunksendung, die am 29. Oktober 1923 aus dem Haus der Schallplatte, dem VOX – Haus in Berlin, ausgestrahlt wurde, hörten v. Willisen und Erbslöh selbstverständlich auf ihren selbst gebastelten Apparaturen mit.
Die beiden anstrengenden Youngsters waren allmählich aus ihrer Bastelkiste heraus- und zu seriösen Wissenschaftlern herangewachsen. Man kam an ihnen nicht mehr vorbei und wollte es auch gar nicht, im Gegenteil: Aufgrund ihres Sachverstandes standen den beiden Freunden alle Türen offen. Im Heinrich – Hertz – Institut gingen sie ein und aus. Die Leitung des VOX – Hauses bat v. Willisen um Beratung bei der Verbesserung der Übertragungsqualität bei Rundfunksendungen. Die Eintrittskarte in die Wissenschaftswelt hatten sich v. Willisen und Erbslöh durch ihr enormes Fachwissen erworben, zum einen mit dem Studium zugänglicher in- und ausländischer Fachliteratur zur Entwicklung der Funktechnik, durch die sie beachtliche Einblicke in physikalische Zusammenhänge gewannen, zum anderen aber auch durch ihre jahrelangen, lausejungenhaften, und nicht immer legalen praktischen „Feldversuche“. Einen ersten Erfolg konnte v. Willisen mit seiner neuen Aufnahmetechnik verbuchen, die er mittels Verstärkern und Mikrofonen durchführte. Er setzte mehrere Mikrofone ein, die im Verstärkereingang nach Art späterer Regiepulte mischbar waren und somit die Tonqualität entscheidend verbesserten. All seine Geschicklichkeit und sein Fleiß führten dann wie oben beschrieben zu den Anfängen seiner ersten Firma, der Tonographie.
DAS 3. LEBEN DES HANS-KARL V.WILLISEN
„Es gibt nichts, was nicht zu machen ist, man muss es nur machen.“ Mit diesem Grundsatz, der bei ihm immer dann zum Tragen kam, wenn es besonders schwierig wurde, begann das 3. Leben des H – K. v. Willisen.
LEUTE FÜR NEUE FIRMA GESUCHT! WER MACHT MIT?
Es war die Zeit des Wirtschaftswunders und v. Willisen erst in den 40ern, nicht zu alt, um nicht alles noch einmal auf eine Karte zu setzen, schließlich hatte er ja viele Trümpfe in der Hand. Um nur einige zu nennen: Da war sein Können, sein Sachverstand, seine eiserne Disziplin, sein enormer Erfahrungsschatz, auch seine sehr ausgeprägte Kontaktfreudigkeit, die ihm zu Gute kam.
Von Willisen bündelte noch einmal all seine Kräfte, er verließ Lensahn und siedelte nach Wuppertal um; die Nähe zum Westdeutschen Rundfunk in Köln spielte dabei eine Rolle. Er versammelte junge, engagierte Leute um sich und gewann so Mitarbeiter aus den verschiedensten Arbeitsbereichen; jeder, der sich für sein Gebiet, die Rundfunk- und Verstärkertechnik interessierte und den Willen mitbrachte, sich fortzubilden, war ihm willkommen. Mit Hilfe seiner neuen Belegschaft wagte es v. Willisen noch einmal, nun zum dritten Mal, eine Firma zu gründen. Und er nannte sie wieder, nach altem Erfolgsrezept, Tonographie. Werner Andres kam 1958 als Elektriker zur Firma und machte als Betriebsingenieur und Leiter der Einkaufsabteilung Karriere. Wir wollen Werner Andres zu seiner aktiven Zeit bei der Tono befragen.
Sogar einen Studenten der Theaterwissenschaften hatte es zu v. Willisen verschlagen: Günther Schütte jobbte in den Semesterferien bei der Tono. Er war wohl so angetan vom Arbeitsfeld und der Atmosphäre, die in dieser Firma herrschte, daß er sein Studium an den Nagel hing, umsattelte und zur rechten Hand des Chefs wurde. Als Entwickler der großen Klassiker der Rundfunk – Studiotechnik blieb G. Schütte fast bis zur Auflösung bei der Tonographie.
Wie sollte es anders sein, v. Willisen, der Chef, der Macher, der Mensch, landete mit seiner Firma wieder einen Coup:
V76, V74, V72a, ebenso U70 und U73 – alles TAB – Erfolgsgeräte, wurden übrigens u.a. von Telefunken und Siemens in alle Welt vertrieben und im In- und Ausland hoch geschätzt.
Wer heute eines von diesen raren Teilen besitzt, kann sich glücklich schätzen. Der legendäre Mikrofonverstärker V76 hat inzwischen Kultstatus erreicht. (Schütte 2006).
Leider konnte der „Baron“, wie v. Willisen von seinen Mitarbeitern gern genannt wurde, seinen Erfolg nur knapp 10 Jahre lang genießen, er verstarb im Jahr 1966 kurz vor seinen 60. Geburtstag. Damit war sein 3. Leben, sein Leben auf dieser Welt, zu Ende. Doch wer denkt, daß unser „James Bond der Wissenschaften“ nun endgültig von der Bildfläche verschwunden ist, der irrt gewaltig. Denn hält jemand ein kostbares TAB – Gerät in seinen Händen, fällt ihm nur ein Name ein: v. Willisen, Hans-Karl von Willisen, und somit ist er für ihn – und für uns – unsterblich geworden.
Über die beiden ersten Lebensabschnitte des H. – K. – v. Willisen war und ist einiges in der einschlägigen Literatur zu finden (v. Krooge, Bölte, Schütte). Der später folgende dritte Abschnitt über die Tono stützt sich allein auf Aussagen der wenigen Zeitzeugen und ehemaligen Mitarbeiter der Firma, Werner Andres und Günther Schütte. V. Willisen konnte seine Biographie aus o.g. Gründen nicht mehr schreiben. Wir hoffen, daß wir viel erfahren werden über eine große Zeit, in der Rundfunktechnik im Gegensatz zu heute, noch zu Recht so genannt werden konnte und die nach unserer Meinung viel zu schnell zu Ende ging. Im Studio und im lebenden Museum unserer FUNKSTUNDE kann man fast alle TAB – Geräte bewundern und hören wie gut Aufnahmen mit v. Willisens Technik klingen.
Die Geschichte der Tono endete eigentlich vor gar nicht so langer Zeit (1990), und wir waren dabei, doch leider haben wir nicht so viele Dokumente und Zeitzeugnisse gesammelt wie es leicht möglich gewesen wäre. Wenn einen das volle Leben umgibt, wer denkt schon an die Zeit danach, daß es einmal zu Ende sein könnte. So einiges hat sich dennoch angesammelt im eigenen Archiv. Wichtige Zeitzeugen gaben ihr Wissen hinzu, dazu persönliche Informationen von Günter Schütte.
Als junger Bastler ist Johannes Brüning schon von Witten nach Wuppertal zur Tono geradelt, hat dort angeklopft, um ein rares Ersatzteil von der Firma zu ergattern: wie sich die Bilder gleichen… Den „Baron“ hat er nicht kennen gelernt, doch viele andere Persönlichkeiten, mit einigen hat er Freundschaft geschlossen. Heute bemüht sich der etwas älter gewordene Bastler Brüning als Chronist. Bei uns in der FUNKSTUNDE ruht ein zentraler Schatz des Barons von Willisen. Es handelt sich dabei um die Produktionswerkzeuge aller je bei der Tono gebauten „Kassettenverstärker“. Wir können z. Zt. nicht überblicken, ob wir die Produktion nochmals aufnehmen werden.
Also an dieser Stelle wird es demnächst mehr Neues aus dem alten Wuppertal geben.
Wir danken Herrn Uwe Schwidewski für vielfältige Mitarbeit.